Ettina Frieda Leuss (1876-1936)
Ärztin um die Jahrhundertwende
Illustriertenfoto von Hofatelier Elvira für „Die Woche. Moderne illustrierte Zeitschrift“ 1 (1900)
Vereinzelt gelang es in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts Frauen, sich Zutritt zu höherer Bildung zu verschaffen.
Im Jahr 1899 immatrikulierte sich Johanna Kappes an der Uni Freiburg für das Fach Medizin und gilt damit als erste „echte“ Deutsche Studentin
in der Geschichte.
Im selben Jahr nahm auch Ettina Frieda Leuss ihr Medizinstudium auf, allerdings zunächst in Zürich und das hatte sicher seinen Grund:
Andere Länder waren Deutschland um einige Jahrzehnte voraus, was den Zugang von Frauen zum Studium angeht.
So besuchten in der Schweiz schon im Jahr 1840 die ersten Gasthörerinnen die Züricher Universität und 1867 ließ die Universität Frauen
zum ordentlichen Studium zu.1
„Es war kein Zufall, dass sich die ersten Studentinnen vor allem für das Medizinstudium bewarben.
Ein helfender Beruf passte ins herrschende Frauenbild.
Es gab aber auch handfeste wirtschaftliche Gründe für diesen Entscheid.
Das teure Studium war eine Investition, die sich irgendwann auszahlen musste.
Anders als bei Jus oder Theologie brauchte es für die Berufstätigkeit weder politische Rechte noch eine kirchliche Zulassung.
Die Ärztin eröffnete ihre Praxis und die Kranken entschieden, ob sie sich ihr anvertrauen wollten oder nicht“.2
Obwohl die Frauen in der Schweiz studieren konnten,
standen viele Studenten und Professoren dem Frauenstudium feindlich gegenüber.3
„Waren Studentinnen körperlich nicht zu schwach, um den Anforderungen der Universität zu genügen?
Zudem fand man es unschicklich, dass sich Damen in aller Öffentlichkeit mit Sexualorganen befassten.“
Der Münchner Anatom Theodor von Bischoff publizierte 1872 eine Streitschrift gegen das Frauenstudium:
„Das weibliche Gehirn wiege durchschnittlich 134 Gramm weniger als das männliche und
ein Studium verletzte die natürliche Berufung der Frau“.4
Weibliche Studenten belästigen männliches Bedienpersonal in einer Kneipe,
Parodie auf das Frauenstudium an der Universität Zürich (Kladderadatsch 1872).5
Die Voraussetzung für ein Medizinstudium war damals wie heute das Abitur.
Allerdings war der Zugang zu Gymnasien Frauen verwehrt, Mädchengymnasien gab es noch nicht.
Die ersten Studentinnen hatten somit nicht nur gesellschaftliche Vorurteile zu überwinden,
sondern ihre naturwissenschaftliche Vorbildung war in der Regel lückenhaft.6
So schrieb auch Anna Heer, die ihr Medizinstudium im Jahr 1883 aufnahm:
„Vielleicht mit Ausnahme der jüngsten Vertreterinnen [sind] die Frauen als Vorkämpferinnen zu betrachten (…),
die viel Kraft und Zeit auf die Überwindung von Vorurteilen und Hindernissen aller Art verwenden mussten
und deren physische und intellektuelle Erziehung mit Rücksicht auf die später eingeschlagene Laufbahn vielfach eine ungenügende war.“
Auch Ettina besuchte vor ihrem Studium kein Gymnasium, sondern die Höhere Mädchenschule in Geestemünde – ihrem Geburtsort.
Ansichtskarte: Geestemünde Höhere Mädchenschule
So bereiteten sich viele studierwillige Frauen nach ihrer Ankunft in Zürich zuerst
ein halbes oder ganzes Jahr auf die Reifeprüfung vor.
Erst nachdem sie diese bestanden hatten, konnten sie sich immatrikulieren.
Viele besuchten allerdings schon davor als Hörerinnen Vorlesungen an der Universität.7
Auch Ettina war eine dieser Frauen und legte im Jahr 1902 ihr Abitur am humanistischen Gymnasium in Hannover Münden ab.
Vom Physikum bis zur Promotion in Deutschland
In dieser kurzen Zeit hatte sich nun auch in Deutschland die Rechtslage verändert:
In dem Jahr, in dem Ettina ihr Studium in Zürich aufnahm, legte in Deutschland ein Bundesratsbeschluss die Grundlage dafür,
dass Frauen einen Zugang zu den deutschen Universitäten bekamen.
Am 20. April 1899 wurden Frauen zum Studium der Medizin, Zahnmedizin und Pharmazie zugelassen.
Vorreiter war Baden, das im Jahr 1900 als erstes Bundesland Frauen zum Medizinstudium an den Universitäten Freiburg und Heidelberg zuließ.
Im Jahr 1903 folgte die Ludwig-Maximilians-Universität in München.8
So ist es sicherlich kein Wunder, dass Ettina ihr Physikum (Zwischenprüfung im Medizinstudium) in Freiburg im Jahr 1902 –
drei Jahre nachdem dort die erste Frau zum „echten Studium zugelassen worden war“ - ablegte.
Sie studierte dort weiter Medizin, sowie in Bonn und München bis zum Jahr 1906 und legte im Juli 1906 ihr in Staatsexamen in Freibug ab.
In dieser Zeit begegnete sie sicher auch der eingangs erwähnten Johanna Kappes, die im Jahr 1904 in Freiburg promovierte.
Sie bekam eine „längere Krankheit“ und von ihrem praktischen Jahr wurden ihr ganze 7 Monate erlassen.
Als Datum ihrer Approbation (die staatliche Zulassung den Beruf auszuüben und die Erlaubnis die Berufsbezeichnung zu tragen)
wird der 20.3.1908 genannt.
Als Ort der Promotion (Verleihung des akademischen Grades eines Doktors) wählte sie Leipzig und legte diese am 23.3.1910 ab.
Nur zwei Frauen legten ihre medizinische Dissertation (Doktorarbeit) im Jahr 1910 an der Universität Leipzig vor:
„Etina Leus“ und Rose Thesing und dies nur 8 Jahre nachdem die erste Frau überhaupt ihre Dissertation dort abgelegt hat
(Ethel Blume im Jahr 1902).9
Als Thema ihrer Dissertation wählte sie: „Ueber Enterokystome“ (Darmzysten).
Privatleben
Viele Fragen zu ihrem Leben bleiben noch ungelöst.
Wie finanzierte sie beispielsweise ihr Studium? Zahlte ihr Vater?
Kapitän Ulrich Eberhard Leuss war von Spiekeroog nach Geestemünde gezogen und arbeitete dort als Lloydkapitän.
Er war bei ihrer Geburt schon 42 Jahre alt und ist etwa 1897 verstorben.
Er erlebte weder ihr Studium noch ihre Karriere und fiel somit als Unterstützer aus.
Wann ihre Mutter verstorben ist, ist nicht klar. Lebte sie von einem Erbe ihrer Eltern?
Unterstützen sie ihre Brüder?
Der 15 Jahre ältere Hans Thomas Leuss hatte das Gymnasium in Aurich besucht und war in diesen Jahren Abgeordneter im Reichstag in Berlin,
arbeitete als Schriftsteller war aber auch über 3 Jahre wegen Meineides im Zuchthaus (mehr dazu an anderer Stelle).
Bruder Johann Addus fuhr als „Master“ zu See, Bruder Frerich Focken ebenfalls als „4th Officer“.
Über eine Ehe von Ettina oder von Kindern wissen wir nichts.
Ärztin
Über ihr weiteres Leben ist noch nichts weiter bekannt, als die Stationen ihrer Tätigkeit als Ärztin.
Diese sollen daher nur tabellarisch dargestellt werden.
1911 niedergelassene Ärztin in Berlin, Kurfürstenstr. 100 und Ellen bei Bremen
1912 niedergelassene Ärztin in Königsberg
1913 Assistenzärztin im Bürgerhospital in Stuttgart
1914 Assistenzärztin an der Colmantschen Privatklinik od. Sanatorium in Bendorf am Rhein
1917 Ärztin in Berlin, Sybelstr. 63 und leitende Ärztin des Pflegeheims Burg Daber in Wittstock
1919 am Stadtkrankenhaus in Zwickau o.A.
1919 niedergelassene Ärztin in Berlin
1928-31 niedergelassene Ärztin in Eibenstock/Erzgebirge
1933 niedergelassene Ärztin in Aue/Erzgebirge
1935 Dresden
1936 Leipzig, dort 1936 verstorben. Der Sterbeort ist nicht ganz geklärt,
nach dem RAR war sie zuletzt in Aue, der RMK gibt als Ort Leipzig an.
Wir haben Ettina nur in groben Zügen kennengelernt, haben kein Foto und wissen nichts Persönliches über sie –
außer ihren beruflichen Werdegang, aber sicher können wir davon ausgehen, dass sie Willensstärke und Intelligenz auszeichnete.
Auffällig ist auch, dass es sie nie lange an einem Ort hielt und ihr Leben durch zahlreiche Umzüge gekennzeichnet war.
Sie durchbrach mit ihrem Studium und ihrem Beruf eine Männerdomäne und war sicher für vielen Frauen ein Vorbild.
➸ Direkt zu Ettina Leus im Stammbaum
Quellen:
- https://info.doctolib.de/blog/frauen-in-der-medizin-von-studium-und-praxisgruendung-bis-fuehrungsposition/
- https://www.uzh.ch/blog/hbz/2019/03/11/erste-medizinstudentinnen-an-der-universitaet-zuerich/
- https://info.doctolib.de/blog/frauen-in-der-medizin-von-studium-und-praxisgruendung-bis-fuehrungsposition/
- https://www.uzh.ch/blog/hbz/2019/03/11/erste-medizinstudentinnen-an-der-universitaet-zuerich/
- https://de.wikipedia.org/wiki/Frauenstudium_im_deutschen_Sprachraum
- https://www.uzh.ch/blog/hbz/2019/03/11/erste-medizinstudentinnen-an-der-universitaet-zuerich/
- https://de.wikipedia.org/wiki/Frauenstudium_im_deutschen_Sprachraum
- https://info.doctolib.de/blog/frauen-in-der-medizin-von-studium-und-praxisgruendung-bis-fuehrungsposition/
- https://d-nb.info/1239734646/34